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»R.F.C.H.Q. 1914–1918« by Maurice Baring (London, G. Bell and
Sons 1920). Das erste Kriegstagebuch von drüben, das mir unterkommt. Und ich freue
mich, daß es gerade von Maurice Baring ist, der mir aus den Erzählungen unserer
gemeinsamen Freundin Ethel Smyth noch in so heller Erinnerung steht! Engländer
gefallen uns immer am besten, wenn es eigentlich keine ganz richtigen Engländer
sind, siehe gleich Bernard Shaw. Wahrscheinlich geht’s ihnen ja mit uns ebenso.
Nur ist da doch aber ein Unterschied. Der Deutsche, der kein ganz richtiger ist,
gerät nämlich dann meistens sofort in Widerspruch gegen alles Deutsche, er schlägt
sich mit dem Deutschen in sich herum, es wird ihm zum Problem, während der
Engländer höherer Art für sein eigenes Gefühl noch immer ein ganz richtiger
Engländer bleibt, der nur eben ganz sachte dann noch ein bischen weiter geht: er
wird mehr, als ein ganz richtiger Engländer ist, doch ohne darum von diesem irgend
etwas aufzugeben; er nimmt nicht ab, er nimmt nur zu. Gerade das macht mir ihn so
wert: denn mir schien eben dies immer das Ideal vollendeter Bildung, ich wünschte
mir immer, über die Grenzen meiner Nation zu gehen, aber dabei den Eigensinn, den
Eigenlaut meiner Nation unversehrt mit hinüber zu nehmen. Baring ist das schönste
Beispiel eines solchen Europäers, dem man doch immer die heimische Mundart noch
anhört. Das Schicksal hat’s ihm aber freilich auch leicht gemacht; es traf alles
aufs Glücklichste zusammen ... Zunächst wuchs er in Eton und Cambridge auf, was
einem eine so feste Form mitgibt, wie bei uns Kremsmünster, Kalksburg oder
Schotten: dem Individuellen bleibt noch Raum genug, aber es wird den Einschlag nie
mehr los, im ganzen Leben nicht. Dann Diplomat, erst in Paris, später in
Kopenhagen und Rom. Also zum Humanismus der Erziehung nun noch der Hintergrund der
großen Welt. Und von vornherein in lateinischer Beleuchtung. Hat erst diese den
Dichter in ihm erweckt? Das weiß ich nicht. Das Ergebnis war jedenfalls ein
latinisierter Engländer. Die sind ein eigenes Kapitel der englischen Literatur.
Rosetti, Swinburne, Oskar Wilde. Der merkwürdigste Fall davon aber vielleicht
Henri Brewster: halb Amerikaner, halb Engländer, in Frankreich erzogen, in Italien
lebend, französisch dichtend, im Stil seines inneren Daseins ein Römer. Dieser
Schlag hat immer eine leise Neigung zum Paradox; seine ganze Existenz ist ja
selber schon ein Paradox. Immerhin bleibt’s wunderlich, wenn der junge dichtende
Diplomat nun aber plötzlich ausspringt, um Journalist zu werden:
Kriegskorrespondent der »Morning Post« im russisch- japanischen Feldzug, dann ihr
russischer Korrespondent zur Zeit der ersten Duma, später in Konstantinopel. Das
Wunderlichste daran aber ist nun, wie rein er in sich dabei den Dichter vom
Journalisten, den Journalisten vom Dichter geschieden hält. Es kommt ja
gelegentlich auch bei uns vor, daß jemand aus der Dichtung zuweilen in die Zeitung
hinüber wechselt oder auch umgekehrt, aber dann mischt er meistens. Solche
Mischungen haben einen gewissen Reiz, lyrische Reporter wie hinwieder auch
Leitartikler auf der Bühne machen Eindruck, aber auf die Dauer wird Dichtung wie
Zeitung doch ungemischt vorzuziehen sein. Dabei schadet’s der Dichtung noch
weniger, mit Zeitung vermischt zu werden (Epos fängt doch ursprünglich überall als
Zeitung an, es erwächst aus der Zeitung, die dann aber am Epos darauf geht), als
es der Zeitung schadet, wenn sich ein Dichter einmischt. Man ist ein Dichter, wenn
einem alles zum Ausdruck des eigenen Gemüts wird; die ganze Welt ist dem Dichter
nur ein Stoff, an dem er sich selber Gestalt gibt. Die Zeitung aber hat dem Leser
die Welt eben als Stoff gerade zu liefern, nicht als Gestalt. Der eigentliche Reiz
des Feuilletons ist es, daß hier sozusagen umgeladen wird: wir sehen noch den
Stoff, das Urmaterial, sehen aber auch die Hand schon, in der auf einmal der rohe
Stoff zu holden Worten erblüht. Und jede Zeitung muß immerfort auf der Hut sein,
nicht durchaus zum bloßen Feuilleton zu werden. Ja, sie dürfte sich eigentlich mit
Di htern nur insoweit einlassen, als sie nicht Dichter, als sie noch etwas anderes
und fähig sind, dieses andere vom Dichter rein zu halten. Und das ist mir nun an
Baring so wunderbar, mit welcher Sicherheit er als Journalist den Dichter
gewissermaßen abzustellen weiß. Dem Dichter kommt’s immer auf den Ausdruck an, dem
Journalisten auf die Sache. Dem Dichter diktiert sein Herzschlag den Stil, dem
Journalisten diktiert ihn der Puls der Welt. In den Puls der Welt hinein das Herz
des Dichters schlagen hören, bereitet Vergnügen, aber eines, dessen man bald
überdrüssig wird. Baring dagegen ist ein Muster der reinen Scheidung des Dichters
vom Journalisten, was ihm auch schon dadurch erleichtert wird, daß er dichtend zum
Lateiner wird, als Journalist aber sich wieder zurück auf den Engländer besinnt
(wie Wickham Steed auch, der durchaus der englische Korrespondent großen Stils
ist, doch in heimlichen Stunden italienische Sonnette gedichtet hat). Den Versen
Barings hört man heute noch Paris an: sie sind durch so viel Formarbeit getrieben,
daß darüber zuweilen fast das ursprüngliche Gefühl etwas abgekühlt ist. Dieselbe
hohe Wortkultur und dasselbe richtigen Engländern unbekannte Gehör für Nuancen der
Sprache zeigt auch die Prosa seiner Dichtungen: jedes Wort gewählt, jeder Satz
gepunzt, ein Stil, der sucht und findet. Die »Diminutive Dramas« (London, Martin
Secker), lauter allerliebste kleine Szenen, deren Witz es ist, große
geschichtliche Gestalten in alltägliche Situationen zu setzen (ungefähr dasselbe
Spiel, das ich einst in meiner »Josephine« trieb), gleichen geschnittenen Steinen.
Der Einfall ist zuweilen fast operettenhaft. Zum Beispiel Heinrich VIII. beim
Frühstück mit Catherina Parr, sich über die schlecht gekochten Eier ärgernd,
woraus ein Streit entsteht, ob das Pferd Alexanders des Großen ein Schimmel oder
ein Rappe gewesen. Oder eine »Macbeth«-Probe zu Shakespeares Zeit, der da von den
damals schon gerade so launischen Schauspielern mit eben der Unverschämtheit
behandelt wird, wie heute noch irgendein armer Autor. Auch seine »Lost Diaries«
(London, Duckworth) beruhen auf demselben Scherz. Wie Walter Pater einmal ein
altes französisches Tagebuch fingiert, um sich unter unseren Augen Watteaus
Schicksal entfalten zu lassen, so schreibt hier der Kaiser Titus von Tag zu Tag
die Bedrängnis auf, in die ihn der Besuch der reizenden, ihm so lieben, doch
leider von ihrer ganzen Familie begleiteten Berenice bringt, deren Abstammung vom
König Salomo doch immerhin auch allerhand köstliche Schattenseiten hat. Oder das
Tagebuch Hamlets in Oxford, unter der Aufsicht des Polonius, in Gesellschaft eines
deutschen Studenten namens Faust und des jungen spanischen Edelmannes Don
Quichote. Oder das des kleinen Washington auf der Schule, der da schon ganz ebenso
darauf erpicht ist, ein Musterknabe zu sein, wie später ein Mustermensch. Daß, wie
Goethe das einmal so grandios gelassen ausspricht, »Erfahrung fast immer eine
Parodie der Idee ist«, ist das Thema jener kleinen Dramen wie dieser verlorenen
Tagebücher; es ist im Grund das ewige Thema des Lebens überhaupt. Zu der
Schadenfreude, mit der es hier ausgesponnen wird, einer stockenglischen
Schadenfreude, die schon Swift und noch Shaw hat, wenn ein Mensch auf einer
Menschlichkeit ertappt wird, gesellt sich hier das Lächeln einer gütigen
Heiterkeit von unbeschreiblicher, geradezu griechischer Anmut, gesellt sich der
Wohlklang dieser still fließenden Prosa von kristallinischer Klarheit. Nun ist
aber das Merkwürdige, daß er nicht, wie solchen hohen Stilisten fast immer
geschieht, zum Gefangenen seiner Sprache wird, der sagen muß, was sie verlangt,
nein durchaus nicht, sondern er bleibt so sehr sein eigener Herr, daß er sie nach
Gebrauch ruhig wieder entlassen kann, ja sich für andere Fälle noch eine zweite
Sprache hält: dieser Artist einer vollkommenen, alle Koloraturen meisternden
Kunstsprache schreibt als Korrespondent ein breites, sachverständiges,
unverblümtes Englisch von der höchsten darstellenden Kraft, ein durchaus nur den
Dienst der Ansc aulichkeit verrichtendes Englisch, ein um Finessen des Ausdrucks
ganz unbekümmertes Englisch, in dem nun aber gerade von dem Menschen, der er ist,
in seinem ganzen Umfang schließlich viel mehr zum Vorschein kommt als in seinen
Dichtungen (wodurch man fast an allen Stilkünsten irre werden könnte; man lernt
jedenfalls begreifen, daß das Kunstwerk zwar Ausdruck des Künstlers ist, aber nur
insofern, als er selber Ausdruck eines Höheren ist, und daß es ihn darum immer zum
Verzicht auf einen Teil von sich zwingt; weshalb auch Goethen die Kunst zu seinem
völligen Ausdruck niemals genügen konnte und er sich als Journalist, Mann der
Wissenschaft und täglicher Briefschreiber aushelfen mußte). Die Sammlungen seiner
russischen Korrespondenzen » What I saw in Russia« (Thomas Nelson and Sons,
London) und » A year in Russia« (Methuen and Co., London) sind Prachtbeispiele
jenes englischen Journalismus großen Stils, der bisher sonst nur von Italienern
zuweilen erreicht worden ist, am schönsten vom europäischen Stab des Mailänder
»Corriere de la Sera«. Wenn Baring einmal sagt: » I entertain perhaps a foolish
desire for goodwill among Nations«, so spricht er damit aus, worin dieser
Weltjournalismus eigentlich wurzelt; es gehört ein humaniste accompli dazu (der
Ausdruck stammt von Sainte-Beuve). Baring ist das so sehr, daß er gelegentlich
gegen England so ungerecht wird, wie sonst nur Deutsche gegen ihr Vaterland (immer
wenn er auf den englischen Zwang der Sitte zu sprechen kommt, uneingedenk, daß
gerade dieser Zwang ja die Vorbedingung der englischen Freiheit ist: je mehr die
Gesellschaft den einzelnen bindet, desto weniger braucht es der Staat). Es gehört
ferner dazu, daß man nicht von einer Redaktion aus oder vom Kaffeehaus
korrespondiert, sondern ins Volk geht, seine Sprache spricht, mit ihm lebt und
dritter Klasse reist. Besonders aber gehört dazu, daß man Nachrichten für
unwesentlich hält, Seelen aber für wesentlich (deutschen Chefredakteuren bisher
noch unbekannt). Darum hat es keinen Sinn für einen Korrespondenten, Minister zu
besuchen, denn gerade was der Korrespondent wissen will, weiß doch der Minister
selber nicht (das bißchen, was unsere letzten Minister über unser altes Österreich
wußten, hatten sie von Wickham Steed). Dagegen ist es von der größten Wichtigkeit
für einen Korrespondenten, auf der Gasse zu sein. Nur auf der Gasse kann man
erfahren, was einem in fremden Ländern niemand sagt, nämlich das, was diesen
Leuten dort selbstverständlich ist, also das Wichtigste gerade, das ihnen
Eigentümliche. Dezember 1905, in der Zeit der größten Aufregung, fragt Baring
einen Kutscher in Moskau, wie das jetzt wohl werden wird. Der Kutscher antwortet:
»Es geht vorüber, aber Gott bleibt.« Baring setzt hinzu: » I agree with him.« Und
ein anderer Kutscher sagt ihm: »Es wird immer reiche Leute geben und es wird immer
arme Leute geben; das ändert sich nicht, auch wenn sich die Regierung ändert.« Ein
armer Bauer steht vor einem reichen Hause, da kommt ein Agitator und sagt zu ihm:
»Ist das recht, daß der da drin so gut lebt und dir geht’s so schlecht? Wirf ihn
hinaus und setz dich hinein!« Der Bauer antwortet: »Wie denn? Der ist doch
gewohnt, reich zu sein. Was fängt der also dann als ein Armer an? Nein, das ging
nicht! Wir, die gewohnt sind arm zu sein, müssen schon Mitleid haben mit denen,
die’s nicht gewohnt sind.« Gar seltsam aber Barings Gespräch mit einem
»aufgeklärten« Bauer, der ihn fragt, ob man in England Christus noch für Gott oder
bloß für einen großen Menschen hält, und der es gar nicht glauben will, daß die
Engländer dieselbe Bibel haben wie die Russen, mit demselben Zeug von Jonas und
dem Wal und derlei Geschichten. Dann fragt er, ob man in England an Geister
glaubt. Baring sagt: Ich glaube daran. Der Bauer belehrt ihn, man könne höchstens
an Telepathie, an eine Art drahtloser Telegraphie glauben; Gott aber kann es nicht
geben, denn wenn es einen Gott gibt, muß er gerecht sein und die Ungerechtigkeit
in der Welt beweist also, daß es keinen Gott gibt. Er hält alle Reli ion für eine
Erfindung der Regierung und ist also sehr erstaunt, einem Engländer zu begegnen,
einem aus einem freien Land, und der dennoch an Gott glaubt! Wie hier ein Mann der
höchsten abendländischen Kultur von einem, der noch vorgestern Analphabet war,
Belehrung im Unglauben empfängt, das ist von einem Übermut der Satire, den sich
nur das Leben selber in seiner grotesken Verwegenheit erlauben kann! An solchen
small fragments of firsthand evidence sind diese Bücher überreich. Einmal kommt
ein Sozialist in ein Dorf, ergreift ein geweihtes Bild und sagt: »Wenn es einen
Gott gibt, wird er Feuer auf mich herabsenden und mich töten, wenn ich dieses
Heiligenbild zerreiße!« Er zerreißt es, wartet, und da kein Feuer kommt, erklärt
er: »Also ist bewiesen, daß es keinen Gott gibt.« Da packen ihn die Bauern, töten
ihn und erbringen sich so den Gegenbeweis. Oder: er hat (im japanischen Krieg)
einen chinesischen Diener, dem er einmal ärgerlich sagt: Du bist blöd! Natürlich
bin ich blöd, antwortet der Chinese, denn, wenn ich nicht blöd wär, wär ich nicht
Ihr Diener, sondern ein Mandarin! Oder wenn er von den Chinesen im allgemeinen
sagt, fast mit einer Wendung Hermann Keyserlings: es kommt ihnen im Leben nicht
auf die Quantität an, sondern auf die Qualität; sie spielen es aus Lust am Spiel,
nicht aber um einen ausgesetzten Preis zu gewinnen. Oder wenn er entdeckt, daß in
russischen Dörfern zu den von den Bauern am liebsten gelesenen Büchern neben dem
»Monte Cristo« und Dostojewskis »Totenhaus«, Miltons »Verlorenes Paradies« gehört.
Wie viele Exemplare des »Verlorenen Paradieses« mögen in Oberösterreich sein, zu
dessen barocken Bildwerken es doch eigentlich sehr gut stünde? Ja: wie viel
Berliner mögen zurzeit Leser Miltons sein? ... Da war ich nun sehr neugierig auf
sein Kriegstagebuch, das ich unwillkürlich beim Lesen immer wieder mit dem Dehmels
verglich. Er kam eben wieder aus Rußland zurück, als er in Berlin von der
Ermordung Franz Ferdinands erfuhr. Er eilt heim, London ist noch »gedankenlos und
heiter«; niemand glaubt an den Krieg, niemand will den Krieg, auch am 1. August
noch bleibt die Stimmung gegen den Krieg. Beim Ausbruch meldet er sich sogleich;
es geschieht nicht aus patriotischer Wallung, es wird nicht von Pflicht
gesprochen, es wird überhaupt kein Motiv angegeben, dies scheint unnötig, es
scheint selbstverständlich. Die Stimmung ist in England keineswegs zuversichtlich,
aber auf französischer Erde sind alle Sorgen sogleich wie weggeblasen. So blieb es
den ganzen Krieg hindurch. Kam er auf ein paar Tage heim, war’s immer dieselbe
atmosphere of gloom and depression, aber in Frankreich everbody was brisk,
cheerful and optimistic. Das ganze Buch ist ein einziger Lobgesang auf Frankreichs
Nervenkraft, die nur eine Bedingung stellt: beim Dejeuner nicht gestört zu werden
(das bat sich Foch, als er das Kommando übernahm, sogar eigens aus). Baring, der
sieben Sprachen spricht und technische Bildung hat, wird als Dolmetsch dem
Nachrichtendienst beim Fliegerkorps zugeteilt; so macht er den ganzen Krieg mit,
vom Leutnant sachte zum Major aufrückend, auch mit der Ehrenlegion dekoriert,
sogar empfindlich: der französische Oberst, der ihm das Kreuz an die Brust heftet,
sticht ihn dabei vor Verve so, daß er höchst unheroisch aufschreit. Zunächst läßt
uns das Buch nun zusehen, wie England seine Armee sozusagen improvisiert; es geht
alles ohne Rausch in guter Haltung ganz sachlich ab, mit großer Geduld, in ruhiger
Entschiedenheit, ohne starke Hoffnungen; erst allmählich wächst, seit Mitte 1917,
der Glaube, daß one fine day the Germans would crack. Erbitterung gegen die
Deutschen wird nirgends laut, allerdings auch Sympathie für sie nicht (während in
dem Buch über den russisch-japanischen Feldzug ausdrücklich erwähnt wird, daß die
Russen »voll Bewunderung« für die Japaner und diese wieder mit den gefangenen
Russen geradezu »zärtlich« waren; was Novalis »die Christenheit oder Europa«
nannte, scheint jetzt immer mehr in Asien zu liegen). Baring nimmt in den Krieg
eine Taschenausga e Dantes mit, die ihn schon vor zehn Jahren durch die
Mandschurei begleitet hat; zu Conlonniers fängt er am 9. September 1914 den ersten
Gesang der Hölle zu lesen an; am 18. Oktober 1918 schließt er zu Paris den letzten
des Paradieses in eben der Nacht, die die Nachricht bringt, daß die Deutschen
einen Waffenstillstand verlangen. Auch sonst ein starker Leser: Homer, Horaz,
Plinius, Shakespeare, Molière, Racine, aber auch Musset, Bourget, France, Hermant,
Claudel usw. So weiß er sich immer eine Lebensecke frei vom Tagessinn zu halten.
Er ist überhaupt ein Meister der uns Deutschen schwer erreichbaren Kunst, in sich
sozusagen das Leben mehrerer Personen bei gut vor einander verschlossenen Türen zu
führen. Wir haben den Ehrgeiz, bei jeder Handlung, auch der alltäglichsten, immer
gleich unseren ganzen inneren Menschen einzusetzen; dadurch wird dieser bald
verbraucht; der Engländer schont ihn, indem er das meiste gar nicht selbst
erledigt, sondern konventionell abtut. Er hat ein viel richtigeres Verhältnis zur
Konvention als wir. Er benutzt sie, um selber hinter ihr frei zu sein; wir
schlagen uns entweder fortwährend mit ihr herum oder sitzen ihr auf, meistens
beides zugleich. Ein Beispiel: Baring wird nach Italien geschickt, um irgendeinen
neuen Apparat kennen zu lernen, die Fliegerschule dort gibt ihm ein Diner. At the
end of luncheon the Captain made a speech about delicious England and the adorable
English people, and I made a speech about divine Italians, quoting Browing, Dante
and d’Annunzio. Was hätte sich da doch unsereiner abgequält! Unsereiner sagt sich
dann entweder: Nein, ich kann nicht lügen! und bringt mit einem muffigen Gesicht
vor Verlegenheit überhaupt nichts heraus, oder er redet sich, um nur nicht zu
lügen, das, was er sagt, selber ein, das gibt dann den unerträglich geschwollenen
Enthusiasmus, ohne Maß und Takt. Der Engländer weiß, daß er jetzt einen speech zu
machen hat, wozu nun einmal gehört, alles delicious und adorable und divine zu
finden, und er genießt das selbst, mit ironischer Laune, weil doch er gar nicht
dafür verantwortlich ist, denn nicht er spricht ja, sondern es ist doch nur der
speech, der spricht. In dieser ruhigen Ergebung in die Wirklichkeit, die ja
schließlich von uns immer nur eine höfliche Verbeugung, aber deswegen noch gar
nicht unsere Billigung verlangt, ruht das Geheimnis der englischen Freiheit.
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