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Nachricht vom Tode der Gräfin Melanie Zichy. Welch eine
wunderbar reine, feste, stille Gestalt geht mit der fast Siebenundachtzigjährigen
dahin, wieviel Erinnerungen nimmt die Tochter Metternichs, des stolzen,
weltgebietenden Staatskanzlers Klemens Metternich, mit sich ins Grab! Unvergeßlich
ist mir die Stunde bei ihr, heuer im März, in Hansens rotem Sina-Palais mit den
Fresken Rahls, dort auf dem Forum der römischen Festung Vindobona. Sie selber aber
in ihrer schlichten Würde, halb Hausmütterchen, halb Regentin, schon fast
entrückt, doch noch lebhaft dem Tage zugetan, Vormärz und Ewigkeit zugleich, auf
diesem geschichtlichen Platz selber auch ein lebendes Stück Geschichte, saß am
Fenster der engen Stube, leicht über das schmale Tischchen gebückt, ein Hörrohr in
der noch festen Hand, und wie nun in ihrem Wesen Adel der Geburt mit dem des hohen
Alters, Güte mit Strenge, der Ernst eines langen Lebens mit einer fast
mädchenhaften Schalkhaftigkeit zusammenfloß, das war von einem unbeschreiblichen
Reiz: aus ganz bestimmten Zügen einer abgeschlossenen Gesellschaft in einer schon
längst historisch erstarrten Epoche schien da vor mir eine ganz zeitlose, höchst
lebendige Märchenfigur geworden. Welche Seelenheiterkeit, und bei welcher
Seelenfestigkeit! Die Milde selbst, aber unbeugsam im Rechten und noch ganz
jugendlich aggressiv gegen alles Halbe, gegen alles Paktieren, gegen jeden faulen
Frieden! So mannhaft wie diese alte Frau weiß ich wenige Männer,und niemals im
Leben bin ich schmeichelhafter ausgezankt worden. Irgendwie gerieten wir nämlich
ins Politisieren und sie begann mich über das Kompromiß zwischen Sozialdemokraten
und Christlichsozialen zu verhören, das ich, meine politische Unschuld beteuernd,
diesen beiden Parteien gleich abgeneigt, mit Mime wünschend: »O brächten beide
sich um!«, dennoch entschuldigen, ja befürworten zu müssen glaubte, faute de
mieux, als Schutz vor Plünderungen, Straßenraub, Judenhetzen, kurz: Schrecken in
allen Farben. Das aber nahm sie mir gewaltig übel. Sie nämlich, die hohe
Achtzigerin, wollte solchen Schutz gar nicht, er schien ihr ärger als wovor er
schütze, dieser schleichende Schrecken seit dem Abfall der Menschheit von der
göttlichen Weltordnung, seit der großen französischen Revolution, immer wieder
notdürftig zugestopft, doch unterirdisch weiter schwärend, niemals ganz
aufbrechend und ausbrechend, eben darum aber auch niemals verrinnend, niemals
entleert, sondern immer von neuem unter dem Schutt fortschwälend, statt endlich
einmal so durchzubrennen, daß er dann aber auch ausgebrannt wäre für alle Zeit,
dieses Fortwusteln in einem allen gleich unerträglichen Zustand zwischen Leben und
Sterben sei das Schimpflichste! Recht und Unrecht in Eintracht, Ordnung und
Aufruhr an einem Tisch, Wahrheit und Lüge Hand in Hand – ja da müßten doch
eigentlich sogar Unrecht und Aufruhr und Lüge selber schamrot werden! »Also lieber
Bolschewismus?« fragte ich lächelnd. Und sie zögerte keinen Augenblick, zu
beteuern: »Aber zehntausendmal lieber! Denn da weiß ich doch, woran ich bin! Aber
es sich weder mit dem lieben Gott noch mit dem Teufel ganz verderben, sondern auf
alle Fälle mit beiden sich’s ›richten‹ wollen, das geht über meinen Hausverstand!«
Dann aber fuhr sie fort: »Und um den Bolschewismus kommen wir ja doch nicht herum!
Weder so noch anders! Wir können nicht mehr von ihm abbiegen! Wir müssen auf ihn
zu, müssen durch ihn durch, bis an sein Ende durch. Dann erst kommen wir auf der
anderen Seite vielleicht wieder über ihn hinaus, ins Freie! Die Geschichte läßt
einmal angefangene Sachen nicht mitten drin unvollendet liegen; eine solche
Schlamperei sieht ihr gar nicht gleich!« Und sie wiederholte: »Durch! Bis ans Ende
durch! Und dann über dieses Ende hinaus, um wieder vom Anfang zu beginnen: in
Gott!« Da verklärte sich ihr altes, hartes Gesicht, das vom hohen Fenster her,
während das lange, schmale Gemach schon in Dämmerung lag, noch einen letzten
Tagesschein erhielt, und wie weither klang die Stimme jetzt, als sie von ihrem Va
er erzählte, dem Staatskanzler, der dies alles immer schon vorausgewußt,
vorausgesehen, vorausgesagt. Dadurch nämlich, daß Napoleon die große Revolution
unterbrochen, ihren natürlichen Verlauf aufgehalten und ihre Willenskraft, durch
klugen Gebrauch französischer Ruhmsucht, auf den Krieg abgelenkt hätte, sei zwar
Frankreich zunächst gerettet worden, aber nun ein noch unverdauter Rest von
Revolution sozusagen der Menschheit im Magen liegen geblieben, der sie solange
quälen werde, bis sie ihn erbräche, bis einmal irgendwo das Experiment der
Revolution erst an sein Ende durchgeführt wäre, bis ad absurdum. Dieses Experiment
wolle ja beweisen, daß der Mensch den lieben Gott und sein Gesetz heutzutage nicht
mehr nötig hat, sondern sich dies alles hier auf Erden jetzt aus eigener Kraft
seiner menschlichen Vernünfte schon ganz allein viel besser arrangieren kann. Seit
ihm das einmal eingeredet worden, sei dieser moderne Mensch zu neugierig erpicht
darauf, um sich jemals wieder davon abbringen zu lassen, es sei denn durch das
Experiment selbst. Der Mensch glaubt es besser zu können als Gott, und so wird er,
was man ihm auch sagen mag, immer antworten: Ich will’s aber jedenfalls einmal
probieren! Und er wird nicht ruhen, so lang es nicht bis ans Ende probiert ist!
Die Hoffnung, daß er vielleicht doch auf halbem Wege stehen bleibt, sei wirklich
albern. Warum denn auch? Einmal auf dem Wege, kann er gar nicht mehr zurück, er
muß vorwärts, er muß jetzt schon bis ans Ende. Dort wird’s sich ja zeigen! Dort
werden es dann alle sehen! Und sehen sie, daß es eben ohne Gott doch nicht geht,
da kehren sie dann um und kehren wieder heim zu Gott! Das hätte die gute Gräfin
gern noch erlebt, und weil ihr jenes Kompromiß das nur unnötig zu verschleppen
schien, war sie recht ärgerlich. In diesem Ärger aber stak noch mehr: der heilige
Zorn einer reinen Natur, der die Wahrheit etwas aus einem Stück, etwas Ungeteiltes
und Unteilbares ist, wovon man sich nichts abhandeln lassen kann. | |