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Da schlägt man das Buch eines Inders auf und findet sich mitten
unter unseren Fragen, Sorgen und Nöten! Rabindranath Tagores »Das Heim und die
Welt« (aus der englischen Übersetzung verdeutscht von Helene Meyer-Franck, im Kurt
Wolff-Verlag, München, 1920) ist eigentlich ein Ludendorff-Roman und man könnte
fast im Ernste meinen, dieses ganze Morgenland sei hier, wie in den kleinen
Erzählungen Voltaires oft, überhaupt bloß Kostüm. Der fanatische
Swadeschi-Häuptling Sandip Babu, mit seinen Grundsätzen, daß alles Große grausam,
daß Grausamkeit das Kennzeichen und Vorrecht der Großen, Gerechtigkeit die Tugend
der Schwachen, daß darum für den Starken Übungen in Grausamkeit Pflicht, zur
Überwindung aller Reste von Rechtlichkeit oder Menschlichkeit, bis zur Erlösung
der alten Götter durch den neuen Menschen, bis zur Geburt Gottes aus dem Menschen,
dieser »Ideengaukler« übermenschelt auf allen abgeweideten Gemeinplätzen vom
Raskolnikow bis zum Zarathustra herum und wenn ihm dann der edle Radscha Nikhil
antwortet, meinen wir wieder Romain Rolland oder Andreas Latzko zu hören. Dabei
fühlt man aber durchaus, daß dies ja gewiß nicht »Literatur« aus zweiter Hand,
nach abendländischem Muster, ist, nein, man fühlt alles durchaus pris sur le vif,
und gerade dies macht die Seltsamkeit des Buchs aus, daß, indem es Inder
porträtiert, Bildnisse von Alldeutschen, oder für englische Leser von Jingos,
daraus werden. Dies zeigt, wie international eigentlich aller Nationalismus ist.
Nationalisten schauen sich aller Orten zum Verwechseln gleich, im richtigen
Nationalisten ist überall jeder nationale Zug ausgetilgt, Tagore selbst empfindet
auch offenbar den indischen Nationalismus als etwas ganz Unindisches. Er empfindet
ihn als Import. Das ist sicher unrichtig, führt aber auf die rechte Spur. Nein,
Import ist der Nationalismus nirgends, aber überall entsteht Nationalismus erst
durch Import, nämlich als Antwort auf Import, als Alarmsignal, wenn sich der Geist
eines Volkes durch Import fremder Geistesart bedroht fühlt: Nationalismus ist
immer zunächst ein Hilferuf. Daß aber überhaupt ein solcher Import fremder
Geistesart versucht werden kann, ist wieder stets ein Zeichen, daß in der
geistigen Entwicklung dieses Volkes irgend etwas versäumt worden ist. Nur wenn in
der Entwicklung eines Volkes sich geistige Bedürfnisse melden, die nun aus seinem
eigenen Geiste zu bestreiten dieses Volk die Kraft nicht hat, noch nicht hat oder
nicht mehr hat, nur dann wird der Versuch geistigen Imports überhaupt möglich. Er
gelingt natürlich nie; nur Geist des eigenen Blutes belebt. Und ein Notschrei des
Blutes nach eigenem Geist ist zunächst aller Nationalismus: Rettung eines Volkes,
wenn er, wie der Fichtes, den Geist aus dem eigenen Blut wirklich zu wecken
vermag; sinnlos, wenn er unproduktiv, wenn er bloßes Geschrei oder gar, wie so
oft, selber auch wieder in der Nachahmung fremdblütiger Nationalismen stecken
bleibt. Darum enttäuscht der Roman Tagores eigentlich: er geht nämlich nicht bis
an sein Ende. Vielleicht ist er nur ein erster Teil. Vielleicht folgt noch einer,
der erst das Ende bringt. Denn unerfüllt, unerlöst bleibt jeder Nationalismus, so
lang sein Ruf nicht die Geistestat in den Tiefen der eigenen Nation erregt. Das
Ende dieses Romans wäre darum, wenn die »Swadeschi-Bewegung« dem Sandip Babu, dem
nationalistischen »Ideengaukler«, entwunden und nun aber dann nicht aufgelöst,
sondern von Nikhil selber, diesem indischen Rolland oder Latzko, frommen Sinnes
und reiner Hand übernommen würde. Nationalismus kann weder durch sich selbst
erfüllt, noch von außen durch Gewalt überwunden werden. Erst wenn, was er sich vom
Hasse verhofft, durch Liebe geschieht, wird er erlöst... Dieser Roman ist eine
Warnung für England. Selbst die politische Weisheit Englands, die höchste des
Abendlandes, hat doch auch ihre Grenzen. Alle politischen Formen Englands sind
Ausdrücke seiner Wirklichkeiten und eben darin besteht jene Weisheit, sich mit
keiner politischen »Idee« jemals einzulassen, bevor sie sich über einen
hinreichenden Gehalt an tragkräftiger Wirklichkeit ausgewiesen hat. Auf diesem
sicheren Gefühl für Wirklichkeiten; physische wie psychische, ruht auch Englands
Weltmacht. Sie ruht auf dem englischen Begriff der Freiheit: der Engländer weiß,
daß Freiheit nicht Ungebundenheit ist, sondern Bindung an Wirklichkeiten; dieser
Begriff der Freiheit und sein Gebrauch hat den Engländern die Welt erobert. Es
scheint aber jetzt zuweilen dieser Instinkt Englands irre zu werden, auch England
scheint schon vom Aberglauben des Kontinents an die Magie westlicher politischer
Ideen und westlicher politischer Methoden angesteckt. Maurice Baring hat seinen
Landsleuten schon vor zehn Jahren diese Gefahr signalisiert, in den Briefen, die
er 1909 aus Konstantinopel an die »Morning Post« über die Jungtürken schrieb (dann
auch als Buch erschienen bei Smith, Elder & Cie., London 19l3). An den
Jungtürken, die ja versuchten, »Ideen« auf ein Land anzuwenden, dem es an ihrem
inneren Grunde, dem die Wirklichkeit zu diesen darum dort höchstens einen äußeren
Anstrich gebenden Ideen fehlt, tut er dar, that if you introduce, into Eastern
countries the forms without the reality of Western gouvernement and Western
methods, the result will be ferocious despotism and ultimate disintegration. Zu
diesen Eastern countries gehören übrigens auch wir, und dieser Satz enthält auch
das Motiv unserer Geschichte seit hundert Jahren. Österreichs Zerstörung begann
mit dem Josefinismus, dem ersten grandiosen Versuch eines Western in form ohne
Western in fact, und ganz ebenso wird doch auch Deutschlands Entwicklung bis auf
den heutigen Tag immer wieder durch den ungeduldigen Wahn verstört, fix und fertig
vom Ausland zu beziehen, was doch nur am eigenen Stamm wachsen und reifen kann;
auch Deutschland fand noch nie die Kraft, seinen eigenen Gehalt zu gestalten, und
statt endlich die Form seines Wesens zu suchen, den Ausdruck seines Sinnes, sein
Selbstbildnis, worin allein recht eigentlich das Geschäft aller Politik besteht,
meint der Deutsche noch immer, ein Volk könnte sich gleichsam sein Gesicht nach
Belieben zusammenstellen, indem es jeden Zug, der ihm an irgendeinem anderen in
der weiten Welt gefällt, geschwind herüberholt. Daher immer wieder die
Notwendigkeit von »Swadeschi-Bewegungen« in Deutschland. Und zu retten ist es nur
dadurch, daß sich vielleicht doch dereinst ein deutscher Nikhil noch der
»Swadeschi-Bewegung« bemächtigt. Er könnte Hermann Keyserling heißen. | |