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Der Vater der Réjane war ein Schmierenkomödiant, aus dem
schließlich ein Theaterkassier wurde, sie trug den Theaterteufel im Leibe.
Regnier, der große Schauspieler und Lehrer der Schauspielkunst, erschrak, als man
ihm die Kleine brachte, der zur Schauspielerin doch alles fehlte. Sie war gar
nicht hübsch, sah wie ein Gassenbub aus, und er fand, daß sie mehr »einem kleinen
Affen« glich. Sie bat und drang in ihn aber mit solcher Verve, sie war ihrer
Vocation so gewiß und hatte dabei so was Drolliges, daß er sich beschwatzen ließ,
es dennoch mit dem possierlichen Ding zu versuchen. Sein Unterricht war kein
Vergnügen. Ganz wie nach ihm Coquelin hielt auch er vom »Talent« nicht viel,
dieses Handwerk will gelernt sein, es besteht aus allerhand kleinen Kniffen und
Listen, aus allerhand geheimen Trucs, worin der kleine Aff nun unbarmherzig zwei
Jahre lang gedrillt wurde, sich dabei von einer erstaunlichen Behendigkeit an Leib
und Seele zeigend. Wenn sie nur nicht so furchtbar schiech gewesen war! Gamin,
Gavroche, Clown, mit einem unmöglich frechen Näschen im zerfahrenen Gesicht,
winzigen lausbübischen Augen unter den verblüfft hochgezogenen Brauen und dem
klaffenden Maul der dicken Weiber aus den Hallen, das Ganze wirklich wie ein
schlechter Witz auf ihr Geschlecht, wie geschaffen, einen von jeder Sinnenlust zu
entwöhnen! Niemand hätte sich damals einfallen lassen, daß diese Stange, von deren
geistiger Grazie man sich allenfalls parodistische Wirkungen in der Operette oder
auf dem Brettl versprechen, die vielleicht eine Pariser Gallmeyer werden konnte,
schon nach ein paar Jahren an Ruhm neben der göttlichen Sara stand, ja, daß es ihr
bestimmt war, einen neuen Frauentyp zu schaffen, für dreißig Jahre, bis zum
Weltkrieg. Über ihre Sappho (in dem Stück Daudets) schrieb der alte Edmond de
Goncourt: » Jamais on n’a joué l’amour comme cela.« Er hat freilich die Duse nicht
mehr erlebt. Aber die Duse gab uns eine Liebe, die sich niemand hätte träumen
lassen, während die Réjane den Liebestraum einer ganzen Generation erscheinen
ließ: von ihr erfuhren die jungen Leute, die um 1880 mannbar wurden, wie sie sich
das Weib wünschten. Alle dreißig oder fünfzig Jahre werden ja stets wieder einmal
die geschlechtlichen Ideale gewechselt. Zum Beispiel an Ludwig Löwe, Krastel und
Kainz, an diesen drei Wandlungen des »Jünglings«, hat man die Seelengeschichte von
drei Generationen. Eine neue Generation kündigt sich immer dadurch an, daß sie
glaubt, auf irgendeinem Gebiet eine neue Wahrheit entdeckt zu haben. Unsere erste
Entdeckung war, daß wir meinten, in jedem Weibe stecke die Möglichkeit zu allen
Weibern. Früher hatte man das unberührte Mädchen, die ingenue, von der heroisch
leidenden Frau, der grande amoureuse, und diese wieder von dem dämonischen Weibe,
der femme fatale, der mangeuse d’hommes getrennt, im Leben wie auf der Bühne.
Jetzt glaubte jeder Student an seiner Grisette das Urweib, gleichsam Eva selbst
und damit eine Versammlung aller Engel und Teufel in den Armen zu haben. Die
Verwandlungen der Frau, jeder Frau, werden nun das Thema der Literatur von den
Goncourts über Daudet, Becque und Bourget bis auf Abel Hermant herab, für die in
jedem Weibe das ganze Geschlecht, in der Dame eine Dirne, in der Dirne eine brave
Frau, in der Prinzessin ein Gassenbub, in der Wäscherin eine Heroine steckt und
jede jeden Augenblick alles werden kann, worauf sie grad Appetit hat, da sie ja
niemals irgend etwas davon wirklich ist, sondern eben darin jetzt das Wesen des
Weibes bestehen soll, nichts zu sein, aber alles, alles scheinen, alles spielen zu
können. Goncourt hat das in die klassische Formel gebracht: »Il y a des hommes, il
y a la femme« (Frauen mit üblen Erfahrungen am Manne können die Formel natürlich
umkehren und sie wäre ganz ebenso wahr.) Ihr schauspielerischer Ausdruck, ihr
erster und ihr stärkster Ausdruck war die Réjane; jeder ihrer Gestalten lauerte
heimlich das Urweib auf, dadurch ist sie die große Schauspielerin unserer
Generation geworden: die Darstellerin des Weibes, wie von 1880 bis 1910 etwa der
Mann von westlich instrumentierter Sinnlichkeit es sich mit Abscheu begehrte. Ganz
Dame geworden, aber irgendwie heimlich doch Volk geblieben, mit dem guten Herzen
des Volkes, aber auch mit seinem bösen Blick, dabei sich selber über die Dame,
deren Augenschein sie mit solcher Geläufigkeit zu geben wußte, stets heimlich
lustig machend und sie noch chargierend, parodistisch übertreibend, doch gerade
dadurch eben erst ganz die richtige Dame dieser Zeit, die Dame der radikalen
Republik, die ja keine mehr ist, sondern, gestern noch Canaille und morgen
vielleicht wieder, nur in der Zwischenzeit geschwind die rasch erlernte Dame
spielt, selber darüber lachen muß, wie täuschend sie das trifft, und eigentlich
eine geheime Wut hat, daß man es ihr glaubt, weil ihr gesunder Instinkt im Grunde
darauf pfeift, weil sie Stunden hat, wo sie sich nach der Gasse, ja nach der Gosse
zurück sehnt und weil sie jeder heimlich neidisch ist, die noch nicht nötig hat,
sich in dieses steife Staatskleid der Dame zu zwängen, so war die Réjane das
»Ideal« der Männer wie der Frauen einer erst gestern emporgetauchten und dieser
Überraschung eigentlich selbst nie ganz trauenden, die nostalgie de la boue nie
ganz überwindenden Gesellschaft, jener bourgeoisen Gesellschaft, deren Beruf Péguy
später einmal dahin zusammengefaßt hat: Le monde moderne avilit, c’est sa
specialité. Dieses Avilissement aller Menschen und aller Dinge, ja der ganzen
Schöpfung, nun an einem besonderen Fall, am Weibe darzustellen, und mit einer
teuflischen Schadenfreude, der aber zugleich auch eine tiefe Rankune, ja die
Rachsucht der Geschändeten anzuhören war, ist die Spezialität der Réjane gewesen;
die masochistische Lust, die die Damen der Republik fanden, sich hier in ihrer
ganzen Erbärmlichkeit entblößt zu sehen, erhielt durch das unheimlich Drohende der
doch immer mit hinterrücks geballter Faust spaßenden Spielerin noch einen
besonderen Frisson. Der nächste Schritt war dann, daß die versteckte Faust sich
zeigte, die rote Fahne des Aufruhrs schwingend: Yvette Guilbert. Noch ein Schritt
und das Weib aus dem Volke trat rein hervor, eines das sich nicht mehr als Dame
maskiert, das keinen Zug der Vergangenheit mehr, das schon das Antlitz der Zukunft
hat: Susanne Després. Beide stecken schon in der Réjane, deren Kunst eine
Spannweite vom zweiten Empire, das überall noch deutlich in ihr nachklingt, bis
zum russischen Chaos hat; eine heiße Gier nach Steppe, nach Barbarei, nach Urwelt
seufzt schon leise zuweilen aus ihr auf. Sie hatte freilich auch das Glück, einen
entscheidenden Augenblick vorzufinden, den nämlich, als sich in den Naturalismus,
den Triumph der Wirklichkeit, eben schon ein leiser Degout zu mischen begann, ein
Gefühl ihres Trugs und der Entschluß, sich von ihr nicht länger äffen zu lassen:
der Weltuntergang, der sich anzukündigen schien, wurde nur als Weltübergang
empfunden, und das ergab die Stimmung einer eigentlich eher heiteren, einer
zynisch lachenden Apokalypse, die sich selbst durch einen leisen Donner in der
Ferne kaum stören ließ... Den ihr ganzes Leben entscheidenden Erfolg hatte die
junge Réjane am 18. Dezember 1888 als Germinie Lacerteux. Es war eine
Theaterschlacht von einem Ingrimm, wie vielleicht seit der um Hernani keine mehr:
der greise Edmond de Goncourt, mitten im Pulverdampf des Hasses, von
Gallenausbrüchen sittlicher Entrüstung bespien; und noch wochenlang lag die Stadt
wie im Fieber davon und bei jeder Wiederholung ging Abend für Abend der Skandal
wieder los, nur Franzosen lassen sich immer zu Zeiten wieder einfallen, Kunst so
lebensgefährlich ernst zu nehmen. Germinie ist ein Dienstmädl, lieb, brav und gut,
nur leider mit einem gros fond de tendresse à placer, wodurch sie nun an einen
Zuhälter und aufs Pflaster gerät. Wie Réjane dieses in die Schande Gleiten,
lautlos Einsinken, ohnmächtig in den Abgrund des Schicksals Verschwinden gab, das
war von einer fast antiken Größe, die mir bis zum heutigen Tag unvergeßlich
geblieben ist (ich mußte lachen, als ich eben nachlas, was ich damals über sie
schrieb: in einem Stil so rot wie die berühmte Weste, die Gautier bei Hernani
trug!) Kerr hat einmal sehr klug die nordische Schauspielkunst des »Verkneifens
der Gefühle« von der lateinischen »ihres Ausströmens«, die des passiven, negativen
von der des aktiven, positiven Lebens unterschieden: die Réjane war vielleicht die
einzige, die von beiden hatte. Ihr fehlte nur der Dichter dazu. Sie hatte das
Unglück, daß in unserer Zeit die Dichter schwächer sind als die Schauspieler. Auch
hatte sie das Unglück, daß die Franzosen Shakespeare nicht spielen: welche
Rosalinde wäre sie gewesen, welche Beatrice, welche Viola! Dafür hat sie bei
Meilhac in manchen Momenten beinahe Shakespeare gespielt. Aber sie hat, nach der
Germinie, eigentlich auch sich selbst immer nur beinahe gespielt. Ihre Rollen
waren zu gering, als daß sie darin ihre ganze Kraft unterbringen hätte können. Es
blieb immer ein unbeschäftigter Rest von Begabung, der dann debordierte, wie bei
Mitterwurzer und Kainz auch oft in modernen Stücken. Sie hat einmal in einer
Komödie Hermants eine curieuse d’amour gespielt, die vor lauter Neugier nach Liebe
nie zur richtigen Liebe kommt. So könnte man sie selber eine curieuse d’art
nennen, die nie die Rolle fand, in der sie ganz zu sich selber hätte kommen
können. Ihr Schicksal war symbolisch für unsere Zeit. | |