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Seltsam: von Pascal aus, an den mich das Barock als an seinen
größten Widersacher, da doch jede Sache der Widersacher erst ganz verstehen lehrt,
wies, ist mir jetzt erst der volle Sinn der Karamasoff Dostojewskis aufgegangen.
Denn so wenig man dies anzunehmen zunächst geneigt sein wird, sie behandeln beide
dasselbe Thema. Das Urerlebnis beider muß dasselbe gewesen sein. Schon Voltaire
gibt zu, daß im Grunde Pascal sachlich unrecht hatte, aber es hätte sich ihm auch
gar nicht darum gehandelt, recht zu haben, sondern darum allein de divertir le
public; und sein Sieg über die Jesuiten sei dadurch entschieden worden, daß es ihm
gelang, aus dem ganzen Streit ein sujet des plaisanteries zu machen. Weshalb er
ihn auch geradezu mit Molière vergleicht. Das überrascht auf den ersten Blick,
doch näher sieht man, daß Pascal ja wirklich ganz wie der Komödiendichter
verfährt. Das Verfahren der Komödie besteht darin, jeden an seiner Idee zu messen:
dem, was einer sein sollte, stellt sie entgegen, was er wirklich ist, und da muß
man lachen. Denn gemessen an dem, was einer in sich ist, und nun verglichen mit
dem, was er von sich realisiert, wird jeder komisch. »Erfahrung fast immer eine
Parodie auf die Idee«, hat Goethe gesagt, und Dostojewski drückt das nur derber
aus, wenn er im »Jüngling« sagt: »Übrigens haftet der Wirklichkeit immer etwas von
Schusterhaftigkeit an, selbst wenn sie aus einem noch so reinen Streben nach dem
Ideal hervorgeht.« Ob man es Parodie nennt oder Schusterhaftlgkeit, gemeint ist
dasselbe, nämlich daß, sei das Streben des Geistes noch so rein, es dennoch,
sobald es verwirklicht wird, eben durch diesen Eintritt in die Welt, eben durch
diesen Wandel in Erscheinung anders wird. Diese Differenz zwischen Idee und
Erfahrung, diese leise Läsion, Deklination oder Deviation, die das Geistige stets
erleidet, sobald es sich zu realisieren versucht, ist das Urerlebnls Pascals wie
Dostojewskis: an ihm werden sie beide recht eigentlich erst produktiv. Es empört
sie zunächst, sie hassen es und geben beide diesem Haß zunächst dasselbe Ziel: die
Jesuiten (was an dem Russen wunderlich genug ist). Die Pascal so verhaßte morale
facile der Jesuiten, die sich übrigens bei den Dominikanern ganz ebenso, ja schon
beim heiligen Augustinus findet, ist im Grunde ja nichts als Anerkennung jener
Deklination; sie nimmt zur Kenntnis, daß alles Geistige, gar alles Sittliche bei
der Umschaltung in die Wirklichkeit stets ein wenig von sich abgelenkt wird und
einen unreinen Zusatz erhält; und sie nimmt nicht bloß Kenntnis davon, sie nimmt
auch Rücksicht darauf, sie zieht die Deklination mit in den menschlichen Kalkül.
Das ist Pascal und Dostojewski zunächst unerträglich, doch unterscheiden die
beiden sich dadurch, daß Pascal, was immer er auch berührt, der geborne
Mathematiker bleibt (eigentlich geht’s zwischen Pascal, dem Port-Royal und dem
Jansenius auf der einen und den Jesuiten, den Kasuisten, ja dem ganzen Barock auf
der anderen Seite um eben dasselbe, wie zwischen Goethe und Newton, nämlich darum
allein, ob die Erscheinung in ihrer Formel, der mathematischen oder der
sittlichen, aufgehen muß, ja auch nur überhaupt jemals rein aufgehen kann, es geht
um Anerkennung der Wirklichkeit). Dostojewski dagegen ist ein geborner Dichter und
als Dichter lernt er das Grauen vor der Wirklichkeit überwinden, mit der als
Denker (darum vor allem auch als Politiker) auch er sich niemals aussöhnen kann.
Diese Versöhnung mit der Wirklichkeit, mit der Deklination des Geistes in der
Erscheinung, mit der »Schusterhaftigkelt« unseres Lebens ist das Thema der
Karamasoffs. Aljoscha, der Held, beginnt durchaus als Pascal. Auch ihn quält das
Entsetzen vor der Entstellung des Geistigen und gar des Sittlichen in der
Wirklichkeit. Auch er ist, sobald er an Gott und Unsterblichkeit glaubt, sofort
entschlossen, nur noch der Unsterblichkeit zu leben: »einen halben Kompromiß nehm
ich nicht an!« und da geschrieben steht: Verteile dein Gut und folge mir nach!
sagt auch er: da kann ich doch nicht statt mein Gut dann bloß zwei Rubel geben und
statt Ihm nachzufolgen, mich begnügen, in die Kirche zu gehen. So scheint auch ihm
Weltflucht die einzige Rettung, er will ins Kloster. Und alles, womit die Welt
sein Gewissen bedroht, weshalb er sie fürchtet, weshalb er sie flieht, nennt auch
er jesuitisch, das Wort kehrt immer wieder, er hat immer Angst, »auf den
Jesuitenweg zu geraten«. Und es ist nun seltsam, aber von der tiefsten Wahrheit,
daß er gerade darin in diesem Jesuitenhaß mit seinem sonst ganz anders gestimmten,
ganz anders gesinnten Bruder Iwan übereinstimmt, dem Westler, dem Freigeist, dem
Skitaletz, der die Erzählung des »Großinquisitors« ersinnt (das wird immer
übersehen, daß Dostojewski den Großinquisitor als ein »Poem« Iwans einführt:
erdacht ist es natürlich von Dostojewski, doch im Charakter des Iwan, als Ausdruck
Iwans also, nicht Dostojewskis, oder doch nur eines Teils Dostojewskis, jenes
Teils Dostojewskis, dem er sich eben durch die Karamasoff entrungen hat). Dann
rollt das grauenhafte Schicksal Dmitris, des dritten Bruders, ab, bis der als
Mörder seines Vaters verurteilt ist, zu zwanzig Jahren Sibirien. Aljoscha weiß,
daß der Bruder unschuldig ist, er weiß auch, daß der Bruder innerlich noch lange
nicht reif ist, dieses ungeheure Kreuz zu tragen, daß es für ihn, so wie er nun
jetzt einmal noch ist, gar nicht ein Kreuz, das er auf sich nimmt, daß es also gar
nicht »sein« Kreuz wäre. Wenn aber Dmitri Gelegenheit hat, auf dem sibirischen
Transport zu flüchten, so glaubt Aljoscha zu wissen, daß der unglückliche Bruder
in sich gehen, bereuen, innerlich umkehren und die Kraft seines Schuldbewußtseins
(denn wenn er auch nicht der Mörder ist, so trifft doch auch ihn die Schuld an dem
Mord mit; hier wirkt das russische Gefühl der Allverschuldung ein) ihm zur
Wiedergeburt verhelfen wird. Und so rät ihm Aljoscha zur Flucht, die aber doch nur
durch Bestechung, durch allerhand »Unehrenhaftes«, durch Gebrauch unsittlicher
Mittel möglich ist. Und Aljoscha, sonst so rein, rät ihm, ja drängt ihm diesen
Gebrauch unsittlicher Mittel auf, ja Aljoscha gibt sich selbst dazu her. Der
Bruder, als er ihn so argumentieren hört, sagt: »So sprechen eigentlich Jesuiten,
nicht? Sieh mal, wie weit wir beide gekommen sind, was?« Und jetzt heißt es im
Roman weiter: »Ja, so reden Jesuiten,« sagte Aljoscha lächelnd. »Darum liebe ich
dich auch so, Aljoscha, weil du immer die ganze Wahrheit sagst und nichts
verheimlichst,« rief Mitjä froh aus. »Sieh mal, jetzt hab ich dich auf dem
Jesuitenweg ertappt! Abküssen müßte man dich dafür, aber kräftig, weißt du das
auch, Junge?« ... Niemals war Dostojewski Tolstoi so fern wie hier an der höchsten
Stelle seines größten Werkes, ein Abgrund tut sich hier zwischen den beiden auf:
die ganze Welt der Wirklichkeit, eben der Abgrund, der Pascal von den Jesuiten
trennt, und nicht bloß von den Jesuiten, sondern auch überhaupt von der Kirche mit
ihrem großen reinen Sinn für die Wirklichkeit, die wir überwinden sollen, zuweilen
erleiden müssen und niemals ableugnen können. Tolstoi ist ein Abkömmling Pascals,
und Dostojewski ist, hier wenigstens, durchaus der Abkömmling des Barock, des ihm
ganz unbekannten Barock, dessen tiefsten Sinn er aus seiner eigenen Not
wiederentdeckt... Eigentlich gibt’s im Augenblick gar kein »aktuelleres« Buch als
die Karamasoff, denn was da verhandelt wird, ist der Bolschewismus, die letzte
Konsequenz Pascals, eine andere freilich, als Pascal selber zog, der vor jener
Deklination, die der Geist erleiden muß, sobald ihn die Wirklichkeit berührt, aus
der Welt floh, während der Bolschewik mit der allem mathematischen Denken
eingeborenen inneren Gewaltsamkeit auch noch die äußere verbindend, sozusagen ein
Mathematiker in Waffen, den grandiosen Versuch wagt, in der Welt selbst die
Deklination des Geistigen auszutilgen, an der Wirklichkeit selbst die Macht der
Wirklichkeit zu brechen. Und vielleicht hängt alle Zukunft des Abendlands davon
ab, ob es noch gelingen wird, Lenin »auf den Jesuitenweg« zu bringen: zur
Anerkennung der Wirklichkeit. | |