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Walter Rathenau, Geschäftsleuten unheimlich als Phantast und
Denkern verdächtig als Faiseur, aber gerade durch seinen Einblick in zwei Welten,
in den Doppelsinn der Welt, und durch sein starkes Gefühl für das Utopistische,
das aller Erfahrung beigemischt ist, nicht bloß, sondern zugleich doch auch wieder
für den Bodensatz von Wirklichkeit in allen Ideen wirksam, kommt damit zuweilen
viel näher an die Wahrheit, la vraie véritè, heran, als die nur immer auf einem
Leisten, seis theoretisieren, seis praktizieren. Ob er freilich darum aus seiner
richtigen Erkenntnis dann auch der richtigen Tat fähig wäre, weiß ich nicht.
Dieser Einwand wird immer wieder benutzt, um ihm den Eintritt zu verwehren. Aber
daß alle, denen das Schicksal Deutschlands anvertraut ist, der richtigen
Erkenntnis wie der richtigen Tat, ja vielleicht selbst auch nur des bloßen
Begriffs schon, daß es überhaupt noch etwas Richtiges geben könnte, gleich unfähig
und in allem was Himmel und Erde betrifft, gleich ahnungslos sind, das weiß ja
nicht bloß ich. Freuen wir uns indessen, daß er dadurch immer wieder auf Wort und
Schrift zurückgewiesen wird. Er sprach neulich im Demokratischen Klub zu Berlin
über die Fortentwicklung der demokratischen Idee und diese Rede, die die
»Vossische Zeitung« in einer von ihm gebilligten Verkürzung bringt, ist wieder von
erstaunlichen Einsichten, die freilich zu weniger erfreulichen Aussichten führen.
Er vergleicht zunächst die deutsche Revolution mit der großen französischen, die
durch zwei Generationen vorbereitet war, während unsere improvisiert wurde, fast
ungewollt, jedenfalls unerwartet. Auch hatten jene Franzosen damals, was uns in
Deutschland heute fehlt, sie hatten einen großen gegenseitigen Respekt. Auch
damals billigte nicht jeder immer den andern, doch sie verstanden und achteten
einander, so konnte sich ein gemeinsamer Geistesgehalt ergeben. Diese westlichen
Demokratien sind aber Autokratien geworden. Die »Gesellschaft« ist es, die sie
beherrscht. Was aber ist »Gesellschaft«? Die kollektive Einheit der Wohlhabenden
und Gebildeten. Die westlichen Demokratien schätzen den Wohlstand, während wir in
der Herrschaft der Wohlhabenden eine Gefahr sehen. Wir sind nämlich zu spät zur
Demokratie gekommen, ganz so, wie wir zu spät zum Imperialismus kamen.
Imperialismus war die Bewegung der siebziger und achtziger Jahre: da wollten wir
sie nicht. Sie war schon in den neunziger Jahren bedenklich, im zwanzigsten
Jahrhundert unmöglich für uns geworden: da fingen wir sie an. Und wir wenden uns
der liberalen Demokratie, dem System also, das seine großen Zeiten unter dem
Imperialismus hatte, in eben dem Augenblick zu, wo Imperialismus, der ja nur den
Kampf ums Dasein von den Individuen auf die Staaten überträgt und die Konkurrenz
der Einzelnen zur internationalen Rivalität ausdehnt, eben daran ist zu
zerbrechen. Daß unsere Demokratie so spät kommt, hat auch die Folge, daß es ihr
sozusagen an Unschuld, daß uns der Kinderglaube an sie fehlt. Über den Gedanken,
daß es in Deutschland immer wohlhabende Gruppen geben wird, die sich einen
Wahlfeldzug auch schon einmal fünfzig Millionen kosten lassen können, kommen wir
nicht mehr mit einem Lächeln hinweg, wie Zeiten, denen die Demokratie noch neu
war. Wir haben eben die demokratischen Formen in dem Augenblick eingeführt, da die
westlichen Länder schon Erschütterungen dieser Formen fühlen, zugleich aber ein
Strom neuer Ideen aus Rußland über uns kommt. Rußland ist heute keine
Sowjetrepublik, sondern die Autokratie eines Klubs, aus der in zehn Jahren eine
Adelsrepublik nach venezianischem Muster geworden sein wird. Jetzt gibt es in den
Fabriken noch Sowjets, aber sie haben nichts mehr zu sagen: der
Regierungskommissär befiehlt, Arbeitszwang besteht in schroffer Form, zehn- bis
zwölfstündige Arbeitszeit ist geboten, Streik verboten und Akkorde werden
erzwungen. Aber aus diesem Rußland brechen zwei Riesenströme hervor, der kalte
Strom des Ressentiments: Rache zu nehmen an der Bourgeoisie, und der heiße Strom
eines radikalen Gedankens, des Rätegedankens. Der entstammt der Erfahrung, daß
Menschen sich am besten dann verstehen, wenn sie zusammen arbeiten, sich also
kennen und darum dem Nächsten, im eigentlichen Sinne »Nächsten« vertrauen können.
Er ist von so gewaltig werbender Kraft, daß ihm auch Deutschland nicht widerstehen
konnte, wie das Betriebsrätegesetz und der Reichswirtschaftsrat beweisen,
Institutionen, die Rathenau »für mühselig, aber aussichtsvoll« hält, ja, die für
ihn schon etwas von dem »neuen lebendigen Ideengehalt« haben, der sonst unserer
Demokratie noch fehlt. Sie beginnt am Grabe des Hochkapitalismus, der
verschwenderisch im Betrieb, aber sparsam, unendlich sparsam in der Verwaltung
war. Was immer die neue Form der Wirtschaft und Gesellschaft sein mag, sie wird
jedenfalls teurer verwaltet: jeder einzelne spricht vom Gesamtertrag einen höheren
Lohn an, den er noch dazu nicht wie früher der Kapitalist akkumuliert, nicht
wieder in den Betrieb steckt, sondern den er verbraucht. Dies macht es fast
unmöglich, sich die Zukunft eines Landes vorzustellen, das ja mit dem Kapitalismus
zugleich auch noch selber zusammengebrochen ist, das sich erst wieder aufrichten
muß und das auch noch die Milliarden an Kriegsentschädigung zahlen soll: »Jede
Milliarde Gold jährlich bedeutet eine Summe von zehn Milliarden Papier, die hier
gedruckt und irgendwie herangesteuert werden müssen; jede Milliarde Gold bedeutet
fünfzehn Millionen Tonnen Kohlen zum Auslandspreis, fünfzig Millionen zum
Inlandspreis.« Was man so gemeinhin sparen nennt, kann uns da nicht helfen.
Organisieren heißts, organisieren und ordnen, denn wir müssen fortan bei gleicher
Menschenzahl, verminderten Bodenschätzen, gleicher Arbeitsleistung das Dreifache
wie bisher erzeugen. Und wir können das auch, wenn wir die Kraft finden,
ökonomischer zu produzieren als bisher, wo unsere Produktion, kindlich primitiv,
der Laune, dem Eigennutz, dem Zufall überlassen war, wie die Landwirtschaft vor
hundert Jahren, als sie noch kaum ein Viertel von heute trug. Darum werden wir uns
bei der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der alten Demokratie nicht
beruhigen können, sondern auf einen neuen Dreiklang hören müssen: Freiheit,
Verantwortung und Gemeinschaft ... Ich erstaune stets von neuem darüber, wie groß,
klar, klug, ja weise Deutschland spricht, mit hohem Mannesmut in die drohenden
Augen seiner Not blickend. Es geschieht nur aber dann nie was. | |